Norman (III)

Mitten im Raum liegt sein Dasein, fast nackt. Ein T-Shirt in zerfetzten Hauttönen hängt noch um dunkle Schultern und Bizeps, aber schon zwischen den starren Brustwarzen löst es sich in schmutziges Rosa auf und zerfließt mit der Hüfte in ein schwarzes Nichts, aus dem nur noch der eine angewinkelte, intakte Oberschenkel ragt. Zähflüssiger, vergossener Teer, das ist geblieben von dem entblößten Mann, den Norman seit Minuten unverwandt anstarrt. Auf der fast leeren Seite seines Notizbuches bläht sich Normans erster Satz zum Phantom auf. Bis zu welchem Grad der Entstellung bleibt ein geliebter Mensch noch ein geliebter Mensch? Norman sieht auf. Es ist Frühsommer. Er sitzt an seinem Bistrotisch, die Beine überschlagen, die Füße in warm schimmernden Lederschuhen. Er kennt sich hier aus. Nur selten trifft er an diesem Platz einen Bekannten, meist bleibt er allein. Er verweilt, schaut und schreibt ein wenig in sein Cahier. Passanten schlendern vorbei und manchmal schaut er direkt in das dunkle Augenpaar eines Mannes. Als er über sein Smartphone streicht, leuchten die Antworten zu seinem Foto auf. Norman lächelt. Er liest noch einmal den Satz: Mitten im Raum liegt mein Dasein, fast nackt. So kann er sein Leben weiter schreiben. Er muss sich nicht ergießen.

Norman im Glück (II)

Normans Café ist nirgendwo, eine Utopie sozusagen. Es ist nur ein Schauplatz in seinem inneren Film, aber das Atmosphärische muss zu ihm passen. Er rückt einen dritten Stuhl dicht an den Tisch heran und platziert dort – wie unabsichtlich – seine hirschbraune Ledertasche. Man sieht sie nur halb, aber das weiche Leder und der kräftige Schulterriemen fallen ins Auge. Die stoffliche Würde der Dinge, darüber denkt er viel nach, dazu möchte er schreiben. Seine Taschen sind ihm so lieb und teuer, wie es bei anderen Männern das Fahrrad oder das Auto ist. Er umhegt seine Taschen als wären sie Lebewesen. Er achtet ihre Formen, schützt sie gegen ungünstige Witterung und sucht die Utensilien, die darin getragen werden, sorgfältig aus. Niemals würde er hastig eine Tasche überladen. Immer wieder beobachtet er in der S-Bahn, wie die oft vollgestopften Handtaschen der Frauen speckig und deformiert sind. Wie ungeliebte Kinder hocken sie da auf den Knien der Besitzerinnen.

Das vorsichtig angebissene Croissant liegt auf dem schlichten Porzellanteller, etwas dahinter die halbleere Flasche Badoit und das Trinkglas, an dem er eben noch seine Lippen hatte. Den Zuckerstreuer stellt er in den altmodischen Aschenbecher aus Glas – eine Aktion, die mancher Bistrobesucher wiedererkennen wird und die verrät, dass er Nichtraucher ist. Ein wichtiges Signal, denn man darf gern wissen, dass er keine schmutzigen Angewohnheiten hat.

Im Vordergrund aber liegt – inmitten der etwas kühlen Kulisse – Normans Herzensding: ein Notizbuch in der Mode der Wiener Werkstätten. Es ist in hellblau aquarelliertes Kunstpapier eingefasst und trägt die Aufschrift „PRÈT-À-ÉCRIRE“.

Norman tritt zwei Schritte zurück, betrachtet sein Arrangement auf der Bildfläche seines Smartphones, sucht noch einen besseren Blickwinkel und löst aus. Er prüft das Foto, freut er sich kurz über den zusätzlichen Effekt, den das Weiß der Stoffserviette mit der rostroten Tischplatte ergibt, und sendet das Bild in seine virtuelle Welt. Dann darf er ganz für sich sein.

Norman im Glück (I)

Norman im Bistro

Norman ist ein gepflegter Mann. Für ihn muss alles frisch sein, so wie Wäsche, die an einer Leine im Garten trocknen durfte. Er liebt Opern, die den Schmutz der Männer in Schönheit zerfließen lassen. Aber aus der Entfernung sehnt er sich nach der Verkommenheit der Metropole, in der er lebt: den Staßendreck, die beschmierten S-Bahn Waggons, die kaputten Typen in den No-go-Parks.

Zweimal in der Woche sucht Norman ein Café auf, um die Zeit zwischen zwei Seminaren stilvoll zu verbringen. Das gute Leben im Alltäglichen bedeutet ihm viel. Obwohl es schon Mittagszeit ist, bestellt er immer das Petit Déjeuner von der Karte, mit Café au Lait, Croissant und roter Marmelade. Er mag die französischen Ausdrücke, das passt zu seiner inspirierten Lebensart. Ohne Esprit, diesen erfrischenden Hauch, würde ihm das tägliche Einerlei zur Last werden.

Eigentlich liegt Norman nicht viel an einem Croissant. In Wirklichkeit kommt er hierher, um sich zu sammeln und seine Gedanken zu notieren. Am liebsten tut er das im Freien, für sich allein an seinem rostrot-lackierten Bistrotisch. Wenn er alle Utensilien seines guten Lebens beisammen hat, macht Norman ein Foto davon, sozusagen als Startschuss für sein Schreiben. Jetzt muss er kichern, weil er die Assoziation vom Startschuss zum Schreiberguss wieder einmal nicht unterdrücken kann. Aber so will Norman nicht schreiben, er will sich nicht ergießen. Seine Texte wünscht er sich kühl und klar wie frisches Wasser.