
„Es ist vollbracht! Vor dir liegt der Ruhestand, dieser unbekannte Zustand, aus dem es kein Zurück gibt.“
I
Im Personalgeschäft lehrten zwei Phänomene die Hamburger Schulleiterinnen und Schulleiter ab 2010 das Fürchten: ein Stellenüberhang mit dem Namen „Lehrerberg“ und ein Generationswechsel, der sich als „Pensionierungswelle“ ausgab. In einer Kleinen Anfrage sorgte sich die SPD Fraktion darum, ob man für alle die Lehrer und Lehrerinnen, die in absehbarer Zeit in den Ruhestand treten würden, überhaupt genügend junge und gut ausgebildete Bewerber finden werde. In der Tat, dieser Generationswechsel in der Hamburger Lehrerschaft erwies sich als enorme Herausforderung im Personalgeschäft. Aber Jahr um Jahr wurde das Kollegium in der eigenen Schule jünger, der „Berg“ schrumpfte zum Hügel und, obwohl man sich selbst nicht wirklich als Teil der „Welle“ wahrgenommen hatte, wurde man bereits des Öfteren gefragt, wann man denn selbst „dran sei“. Wie bitte? Was für eine Zumutung! Mitten aus einem ereignisreichen Leben will man dich in einen Zustand der ewigen Ruhe befördern? Denn so verheißt es ja das offizielle Etikett ‘Ruhestand‘ für all jene, die sich jenseits des sechzigsten Lebensjahrs befinden, also auch für DICH! Ruhestand – das entspricht so gar nicht deiner ‚Work Ethic‘, mit der es nach 41 Berufsjahren plötzlich vorbei sein soll. Da hilft es auch nicht, wenn die 15-20 Jahre jüngeren Arbeitskollegen den Ruheständlern in spe einen munteren „Unruhestand“ wünschen und zum Abschied einen Campingstuhl überreichen oder einen Kultur- und Wanderatlas für die deutschen Mittelgebirge. An einem 31. Januar ist es schließlich auch für dich soweit, du packst nach einer wunderbaren Abschiedsfeier die freundlichen Gaben von Eltern, Schülern und Kollegium zusammen und machst die Schultür hinter dir zu: Es ist vollbracht! Vor dir liegt der Ruhestand, dieser unbekannte Zustand, aus dem es kein Zurück gibt.
II
In ihrem Bericht „A Journey through Retirement” (2021) verweist die Autorin Anna Rappaport auf mehre extensive sozialwissenschaftliche Studien von Versicherungsexperten, wonach sich bei Ruheständlern bzw. Ruheständlerinnen drei Phasen herausschälen: 1. Phase: Go-go, 2. Phase: Slow-go und 3. Phase: No-go. (1 ) Die erste Erkenntnis, dass nämlich der Übergang in den ‚Ruhestand‘ die Wahrnehmung des eigenen unausweichlichen Alterungsprozesses vertieft, ist evident. Dass aber das eigene Leben durchaus nicht stehen bleibt und schon gar nicht in einem „Zustand“ verharrt, fand ich sehr treffend mit der Bezeichnung „Go-go“ zum Ausdruck gebracht, denn Bewegung und Aufbruch kennzeichnen viel eher den Weg in die Zeit nach dem Arbeitsleben. Am ersten Tag des Ruhestands ist man – oh Wunder- mental und körperlich vollständig unverändert und kann loslegen: Go! Und das hieß für mich genau das, was es auch für die vielen kanadischen und US-amerikanischen Ruheständler aus der oben erwähnten Studie hieß: „ … pursuing a dream that was not possible before retirement.“ Ich wollte wandern (in Bayern), schreiben (einen Blog), Sport intensivieren (Ruderverein) und ehrenamtlich tätig werden (Flüchtlingshilfe). Bei den nächtlichen Diensten für gestrandete syrische Flüchtlinge, die in den Räumen der Caritas am Mariendom ein Nachtlager, Verpflegung, und Fürsorge fanden, fragte ich mich, wie all diese heimatlosen Erwachsenen jemals die Sprache ihres Aufnahmelandes erlernen sollten. Ich selbst hatte Mühe, mir wenigstens 10 arabische Wörter für die notwendigsten Dinge zu merken.
III
Aus diesen eindrücklichen Erlebnissen erwuchs mein Wunsch, in der Erwachsenenbildung tätig zu werden, und so landete ich über Bekannte beim Bereich Sprache und Integration der Grone- Stiftung. Nachdem ich mich schriftlich mit Lebenslauf und Leistungsnachweisen beworben hatte, dann auch zügig die Lehrbewilligung vom BAMF erhalten und in einer Grundschule in 1. und 2. Klassen hospitiert hatte, stand ich an einem freundlichen Novembermorgen vor „meinem“ Alphabetisierungskurs: 14 Männer und Frauen im Alter von 23-63 Jahren aus Eritrea, dem Irak und Syrien. Keiner von ihnen beherrschte die lateinische Schrift, keiner konnte Deutsch sprechen oder verstehen. Vor ihnen die Lehrerin, die von ihren 10 Wörtern Arabisch nur noch Sukran – Danke behalten hatte. Wir haben uns sehr neugierig beäugt und beiderseitig zeigte sich freudiges Interesse, wie das wohl gehen würde mit uns und der deutschen Sprache. In diesem Deutschkurs auf dem langen Weg bis zur ihrer Sprachprüfung Niveau A2/B1 „meine Lehrerin“ zu sein, gehört zu meinen schönsten Unterrichtserfahrungen – und das im Ruhestand!
IV.
Wie ich in der Studie nachlesen konnte, kommt es häufig vor, dass Ruheständler sich in bezahlten oder auch unbezahlten Beschäftigungen in Teilzeit engagieren. Sie greifen dabei auf Kompetenzen (“skills“) aus ihrem Arbeitsleben zurück, erschließen sich aber auch gerne neue Gebiete. Dieses Erlernen von etwas Neuem, welches an die eigene Professionalität andocken kann, ist nicht nur persönliche Bereicherung, sondern eröffnet auch ungeahnte Perspektiven, die man unter den strikten Zeitvorgaben des Berufslebens nicht entdecken konnte. In meiner „Go-go“- Phase habe dagegen ICH die Zeithoheit über das, was ich anpacken und umsetzen will – ein Zustand, den ich nicht mehr missen möchte. Also habe ich Frieden geschlossen mit meinem Ruhestand. Allerdings finde ich kaum Zeit, weiter über „Slow[1]Go“ und „No-Go“ nachzudenken. Warum auch?!
(1) Anna Rappaport. The Journey through Retirement. PDF unter www.soa.or
Der Artikel erschien in der Zeitschrift Hamburg Macht Schule 01/2022 (www.hamburg.de/bsb/hamburg-macht-schule)
